Zulehner: Religion in "taumelnder Welt" wichtige Hoffnungsquelle
Religion ist in der heute so "taumelnden Welt" mit verschiedenen Krisenausformungen eine wichtige Quelle für Hoffnung. Das hat der Wiener Theologe und Religionssoziologe Paul Zulehner in einem Vortrag bei der Internationalen Sommertagung des Katholischen Akademiker:innenverbandes (KAVÖ) am 17. August im Bildungshaus Sodalitas in Tainach/Tinje (Kärnten) erklärt. Damit die Ressource der Religion in den Gesellschaften Europas fruchtbringend umgesetzt werden können, dürften die Religionsgemeinschaften freilich "nicht Teil des Problems", sondern müssten Teil der Lösung sein. Aktuell bedeute dies, der Krieg rechtfertigenden Linie des Moskauer Patriarchen Kyrill entgegenzutreten, der es als Russlands Aufgabe sieht, "der Welt christliche Werte zu vermitteln und die allgemeine 'geistige und moralische Verfassung' zu verbessern".
Bei der KAVÖ-Sommertagung, die noch bis 20. August dauert, widmen sich hochkarätige Referenten der Frage, was Europa trennt bzw. eint. Der in der Ökumene viel kritisierte Kyrill ist nach den Worten von Paul Zulehner ein Protagonist der Trennung bzw. Spaltung, wenn sich das Oberhaupt der russischen Orthodoxie in einer im März gehaltenen Predigt etwa gegen Gay Pride Paraden wende. Menschen oder Länder, die die Forderung nach einem solchen Event ablehnen, würden von der Wertediktatur im Westen ausgegrenzt und "zu Fremden in dieser Welt" gemacht, gab Zulehner die Worte Kyrills wieder. Dieser sehe Russland somit "in einem Kampf, der nicht physisch, sondern metaphysisch ist" - mit drastischen physischen Folgen für die Menschen in der Ukraine.
Autoritarismus wird attraktiver
In seinen Ausführungen über "Werte in Europa - Wie die christlichen Kirchen in Europa Anwältinnen von Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit und Brückenbauer sein können" nannte Zulehner das Ringen um Freiheit, um Gerechtigkeit und um Wahrheit jene großen Themen, an denen sich die Zukunft der europäischen Staaten entscheide. Wie die alle zehn Jahre durchgeführten Europäischen Wertestudien zeigten, nehme seit Mitte der 1990er-Jahre die Zahl junger Menschen zu, "welche die lästige Last der Freiheit wieder loswerden wollen" und anfällig für Autoritarismus seien, wies Zulehner hin. Es mehrten sich populistische Bewegungen in Gestalt einer "illiberalen Demokratie", die Ungarns Premier Viktor Orban als Ziel ausgegeben habe.
Den Nährboden, auf den solche Strömungen fielen, umschrieb der Werteforscher mit dem Satz: "Wollte man in den 68ern die Freiheit vor repressiven Fremdbestimmungen sichern, muss man sie heute vor depressiver Vereinsamung schützen." Die Welt sei "unübersichtlich" geworden, die "privatisierte" Freiheit werde immer "riskanter", viele flüchteten in Konsumismus.
Die Kirchen sind laut Zulehner heute im politischen Raum "Anwältinnen der Freiheit". Als Beispiel verwies er auf die klare Positionierung des Papstes gegen Rassismus und rechten Populismus in dessen Enzyklika "Fratelli tutti". Zugleich gebe es ein anhaltendes Ringen um innerkirchliche Freiheit mit einer Spannung zwischen Lehramt und Gewissen etwa im Bereich der Sexualmoral.
Papst zeigt "christliche Politik" auf
Im Bereich des Ringens um Gerechtigkeit stelle sich die im Zuge der Industrialisierung aufgekommene "alte soziale Frage" heute neu, so Zulehner: Wenn Franziskus mit seinem berühmten Satz "Diese Wirtschaft tötet" Partei für die Modernisierungsverlierer ergreife, gehe es um eine faire, Lebenschancen eröffnende Gestaltung der Globalisierung, Digitalisierung oder Migrationsbewegungen. Der Religion komme dabei die Aufgabe zu, Hoffnungspotenziale zu wecken, denn, so Zulehner: "Angst entsolidarisiert." Der Papst setze sich in "Fratelli tutti" für universelle Solidarität ein und gebe damit einer "christlichen Politik" die Richtung vor.
Zulehner gab seinen katholischen, akademisch gebildeten Zuhörern in Tainach abschließend "bedrängende Fragen" mit: "Könnten wir, die christlichen Kirchen, innerkirchlich geeint (erste Ökumene) sowie zusammen (zweite Ökumene), mit den Religionsgemeinschaften der Welt (dritte Ökumene) und allen Menschen guten Willens (vierte Ökumene) so etwas sein wie eine Quelle des (Gott-)Vertrauens in Kulturen der Angst?" Und: "Müssten angesichts des sinkenden Vertrauens in die Kirchen die Menschen diesen nicht einen Vertrauensvorschuss geben, nicht um der Kirchen, sondern um der Welt willen, der die Ressourcen an Hoffnung und Vertrauen ausgehen?"
Noch bis 20. August folgt der Katholische Akademiker/innenverband laut der Tagungsankündigung dem Ziel, "durch Bereitschaft des Umdenkens ... jenen Prozess zu beginnen, der ein Europa-Gesamtheits-Bewusstsein schafft, das wir sehnlichst herbeiwünschen". Die fundierte Auseinandersetzung mit der politischen, kulturellen und auch religiösen Geschichte der Regionen Europas soll auch Musik, Literatur, Ikonologie und Ikonenmalerei einschließen. Weitere Vortragende bzw. Diskutierende sind der Vorsitzende des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich, Ostkirchenexperte Rudolf Prokschi ("Die Christianisierung des Ostens und die daraus entstandenen unterschiedlichen Kirchen"), der Klagenfurter Zeitgeschichtler Dieter Pohl, der Osteuropa in historischer Sicht beleuchtet, und Westbalkan-Experte Valentin Inzko.
(Info: https://www.kavoe.at/wp-content/uploads/2022/06/Int.Sommertagung-2022.pdf)
Quelle: kathpress
(eo/18.8.2022)